Der Anwaltsladen

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Die Geschichte und Zukunft des Anwaltsladens

- eine kritische Betrachtung der Flexibilität -

 

„Die virtuelle Kanzlei ist Wirklichkeit geworden“ schrieb Rain Ira Schelp Anfang 2000. Das stimmt, aber damit ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende. In vielerlei Hinsicht steckt der Anwaltsladen noch in den Kinderschuhen und manche Aspekte, die in jenem Artikel beschrieben sind, sind eher als eine Beschreibung der Vision für den Anwaltsladen denn als heutige Wirklichkeit zu betrachten.

 

Wie hat es alles angefangen?

 

Vor fünf Jahren habe ich mich selbständig gemacht. Auf den ersten Blick ein gewagter Schritt für einen Niederländer, der kaum zwei Jahre in Deutschland war, ohne ein finanzielles Polster zu haben, dafür aber mit der Aufgabe vier hungrige Münder zu füttern. Andererseits war ich schon einige Zeit als Anwalt tätig und hatte mir bereits eine gute Marktposition in einem Spezialgebiet errungen. Aus Kostengründen habe ich die Kanzlei zu Hause angefangen. Vom Anfang an haben andere mitgearbeitet, jeder von zu Hause aus und jeder auf Stundenbasis. Bald waren die Akten über mehrere Orte verstreut. Es wurde schwierig im Auge zu behalten, wo wer was machte und wie der Fortgang war.

 

Inzwischen war RA Fabian Rebentrost dazu gestoßen. Wir teilten eine Schwäche für Computer. Zusammen haben wir alle Ecken der Online-Welt erkundet. Nicht so sehr das Internet, sondern die Datenkommunikation über eine direkte ISDN-Verbindung. Es ist zwar auch möglich über das Internet eine Datenverbindung aufzubauen. Man muß sich aber dafür in Sachen Sicherheit und Verschlüsselung gut auskennen. Zudem ist eine direkte ISDN Verbindung schneller.

 

Eine direkte Datenverbindung bietet einerseits viele Vorteile, die Telefon, Fax, und E-Mail nicht bieten; man wird andererseits verrückt vom ständig Abgleichen von Versionen und Datenbeständen. Ein Server musste her. Auf dem Server wurde der elektronische Aktenschrank aufgebaut. Damit war zunächst nur die ausgehende Korrespondenz online verfügbar. Wir hatten schon lange den Wunsch gehegt, die eingehende Korrespondenz einzuscannen, um diese ebenfalls in den elektronischen Schrank aufnehmen zu können. Jeder, mit dem wir diesen Wunsch besprachen, riet uns von dem Vorhaben ab. Das technische Argument lautet immer wieder, daß die Dateien zu groß sein würden, um sie in einer vertretbaren Zeitspanne über eine ISDN Leitung zu übertragen. Wir ließen uns von den Skeptikern nicht überzeugen; das Fax wird ja auch eingescannt und über eine Telefonleitung übertragen. Ein Scanner gekauft, herumgetüftelt und siehe da: eine DIN A4 Seite konnte in 20 KB erfaßt werden. Das ist nicht größer als eine Seite eines Word Dokumentes, das bis zu 40 KB groß sein kann. Ein Fax nimmt durchschnittlich eine Minute pro Seite in Anspruch. 200 eingescannte Seiten konnten wir nun in 5 Minuten übertragen, also um den Faktor 40 schneller.

 

Einer der nicht-technischen Skeptiker hatte uns gesagt: scannen hat keinen Sinn. Entweder man scannt alles oder es fehlt immer gerade das Dokument was man braucht. Und wie kriegt man es hin, alle Dokumente zu scannen? Die Lösung lag darin, ausnahmslos alle Post in dem Moment einzuscannen, in dem sie eintrifft.

 

Für die eingehende Faxe gab es eine einfache Lösung: Empfang auf den Server, wodurch das eingescannte Bild vorhanden bleibt, und Weiterleitung an ein normales Faxgerät.

 

Inzwischen hatte ich angefangen ein Datenbankprogramm zu fertigen, in dem man die Informationen erfassen kann, die nicht oder nicht leicht den Dokumenten im elektronischen Aktenschrank zu entnehmen sind. Was als eine Nebensächlichkeit begann, ist zu einem Kommunikationsprogramm für virtuelle Organisationen und zu einem Anwaltsprogramm gewachsen. Es gibt Bestrebungen, dieses Programm, mit Namen „Logbuch“, mit den neuesten Standards wie XML (siehe http://www.lexml.de/) im Rahmen von Open Practice Tools (siehe http://opt.lexml.de) als open source software weiter zu entwickeln. Somit wird ein wichtiger Teil der Infrastruktur, die man für eine virtuelle Organisation im Anwaltsbereich benötigt, jedem umsonst zur Verfügung stehen, mit der Möglichkeit ohne Einschränkungen diese den eigenen Bedürfnissen anzupassen.

 

Soweit die Technik, jetzt aber die Organisation

 

Bis dahin hatten wir die Herausforderung vor allem als eine Angelegenheit der Technik gesehen. Allmählich wurde jedoch klar, daß der organisatorische Faktor und danach der menschliche Faktor die technischen Hürden in den Schatten stellen wurden. Die erste organisatorische Herausforderung war: wo bringen wir das Scannen unter. Dort sollte dann auch die Kanzleiadresse sein und dort würden auch die Akten hängen. Es war uns klar, daß trotz aller Virtualität, Postadresse, der herkömmliche Aktenschrank (Papier stürzt nicht ab und kennt keinen „fatal error“) und der Scanner örtlich zusammen gehören. Verschiedene Szenarios wurden bedacht und verworfen. Bei mir zu Hause? Unmöglich. Bei einem der Mitarbeiter? Hat fast geklappt, aber war dann doch eine Brücke zu weit. Bei einem Burocenter? Fast den Vertrag unterzeichnet, dann doch kalte Füße bekommen. Bei einer anderen Kanzlei? Ungünstig. Und wer wird die Post einscannen. Jemand dafür einstellen, war gegen meine Vorstellungen einer „Netzwerk-Organisation“. Arbeitsverträge setzten eine Hierarchie voraus, worin ich nicht mehr arbeiten will, weder als Angestellter, noch als Chef. Die Ansprüche waren hochgesteckt, die Lösung nicht in Sicht.

 

Und dann in einem Gespräch zwischen Fabian Rebentrost und mir, als die Hoffnung eine Lösung zu finden, auf einem Tiefpunkt war, kam die Eingebung: ein eigener Raum irgendwo in der Stadt, mit den Computern, den Akten und dem Scanner, wo wir einander und Mandanten treffen konnten. Die Post sollte turnusgemäß eingescannt werden, eine Arbeit von ein bis zwei Stunden. Der Name war auch schnell gefunden: „Anwaltsladen“. Der Anwaltsladen sollte ein Anziehungspunkt werden, ein Ort, wo man gerne hingeht. Damit schieden die meisten modernen Bürogebäude aus. KuDamm, Mitte, Prenzlauer Berg, überall gesucht, nichts erschien geeignet oder es war geeignet, aber es klappte nicht mit dem Mietvertrag. Wieder ein Tief erreicht. Mein Gebet nach oben wurde erhört: ein Raum im Gemeindehaus Wannsee wurde angeboten. Die Umgebung, das Gebäude, der Raum und das Ambiente stimmten und so entstand vor zwei Jahren der Anwaltsladen.

 

Niemand sitzt ungestraft unter Palmen

 

Mit dem Anwaltsladen ging ein Traum von Freiheit, Effizienz, Ortsungebundenheit und die daraus resultierende Arbeitsfreude in Erfüllung. Aber es sollte nicht das Ende der Prüfungen sein. Die Flexibilität und Freiheit, die wir uns errungen hatten, setzen eine ebenso große Selbstdisziplin voraus. Wenn das wache Auge von Kollegen weit weg ist, schleicht die Faulheit rein. Faulheit zeigt sich bei jeder Person anders, der eine fängt mit der Aufgabe nicht an, bis er angemahnt wird, der andere macht zwar die juristische Aufgabe, aber hört dort auf, wo die ebenso wichtige administrative Abwicklung anfängt. Ein anderer macht all das, aber vergißt das, was er gemacht hat, einem anderen, der von der Erledigung abhängig ist, zu informieren. Wieder ein anderer versucht die ihm nicht gefallenden Aufgaben auf andere abzuwälzen. Kurz gesagt, alle menschlichen Schwächen, wogegen die Orts- und Zeitgebundenheit der herkömmlichen Organisation ein Gegengewicht bilden, kommen verstärkt zu Vorschein. Obwohl ich mich eher als selbstdiszipliniert einschätze, habe ich mich buchstäblich jeden Tag bei Faulheiten erwischt, die nicht in den Anwaltsladen passen. Den inneren Schweinehund bekämpfen war und bleibt harte Arbeit. Schließlich, wenn ich mich faul zeigte, mit welchem Recht kann ich eine wachsende Selbstdisziplin von anderen verlangen?

 

Technisch und organisatorisch gesehen, ist „flexible Mitarbeit“ ohnehin möglich. Man braucht sich dafür nicht unbedingt für die weitgehende Virtualität des Anwaltsladens zu entscheiden. Eine abgeschwächte Form ist auch möglich. Aber jeder Maß von Flexibilität erfordert eine ebenso große Selbstdisziplin, sowohl vom „flexiblen Mitarbeiter“ als von seinen Kollegen. Zur Erschaffung von flexiblen Arbeitsformen sind die Änderungen ebenso sehr bei den Anwärtern für eine solche Arbeit zu suchen, als bei denjenigen die solche Arbeit anbieten könnten.

 

Meine Erfahrung ist, daß nur ein kleiner Teil der Anwärter sich wirklich (und mit wirklich meine ich, inklusive aller Konsequenzen) diese Flexibilität wünscht und in der Lage ist, innerhalb einer so flexiblen Organisation (oder im Fall des Anwaltsladens beinahe der Abwesenheit einer Organisation) zu arbeiten. Die Frau neigt dazu, erst dann etwas zu unternehmen, wenn jemand ihr das Gefühl vermittelt, sie sei unbedingt nötig; der Mann neigt dazu beeindrucken zu wollen, zum Beispiel, daß er eine Sekretärin herum rennen lassen will, was in dieser Organisationsform eben nicht geht.

 

Der kleine Teil der Anwärter, der diese Neigungen wirklich überwinden will, muß trotzdem hart daran arbeiten, sich jeden Tag erneut für die flexible Arbeitsform zu eignen. Nach meiner Erfahrung sollte man mehrere Jahre in einer herkömmlichen Organisation gearbeitet haben, gelernt haben, was Verantwortung tragen heißt, wissen, daß Dinge schief gehen können, verschiedene Formen von Zusammenarbeit erfahren, bevor man sich wirklich die Mühe geben will, die Selbstdisziplin zu entwickeln, die der Anwaltsladen voraussetzt.

 

„Der kleine Teil“, der die Herausforderung des Anwaltsladen angenommen hat, besteht aus Promovendi, Mütter, angehende Mütter, Referendare und „Nebenjobber“. Es sind drei Kinder geboren worden und bald kommt das Vierte! Jeder dieser „Angeschlossenen“ entscheidet selbst ob, wann, wo und wie viel sie oder er arbeitet.

 

Die Zukunft

 

Am Anfang habe ich geschrieben, daß manche Aspekte des Anwaltsladens noch in der Visionsphase sind.

 

Zur Zeit gehört nur eine Anwaltspraxis zu dem Anwaltsladen in Wannsee, statt die drei oder vier, wofür er aufgebaut worden ist. Die Bestrebungen, weitere Praxen zu beherbergen, sind bis jetzt gescheitert.

 

Der Anwaltsladen in Wannsee ist zwar ein Ort, wo man gerne hingeht und verweilt. Er liegt aber nicht zentral genug, um ein geeigneter Treffpunkt für alle zu sein. Der Aspekt „Treffpunkt“ soll mehr ausgeprägt werden. Mir schwebt ein Anwaltsladen in der Stadtmitte vor, wo man in gemütlicher Atmosphäre herrlichen Cappuccino trinkt, und wo die Selbstdisziplin sich an die Arbeit zu setzen, erst Recht auf die Probe gestellt wird.

 

Jeder der einen Anwaltsladen aufbauen will, kann auf meine Unterstützung zählen. Dieser Beitrag und neue Entwicklungen werden auf http://www.anwaltsladen.de/ sichtbar sein.

 

Berlin, März 2001

 

 

Murk Muller

murk.muller@mmrecht.com

 

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